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KölnAlumni stories: Jürgen Wiebicke

"Clever blaumachen"

(c) WDR/Bettina Fürst-Fastré


Jürgen Wiebicke ist freiberuflicher Radiomoderator. Auf WDR 5 macht er Sendungen wie „Neugier genügt“ und „Das Philosophische Radio“. Im KölnAlumni Interview erzählt er, warum er eine Festanstellung aufgegeben hat und als Freiberufler heute sogar im Schwimmbad arbeiten kann.
 

Herr Wiebicke, Sie haben in Köln Philosophie und Germanistik studiert? Gab es für Sie besonders prägende Erlebnisse im Studium?

An unserem ersten Tag empfing uns der Dekan der Philosophischen Fakultät mit den Worten: „Herzlich Willkommen an der Uni Köln. Sie wissen ja, dass Sie alle in die Arbeitslosigkeit hinein studieren.“ Das hat damals genau das bestätigt, was ich selbst gedacht habe. Das war in den 1980er Jahren halt der Zeitgeist. Mir hat zu Anfang meines Philosophiestudiums auch jemand gesagt, ich könne ja gleich den Taxischein machen. Das finde ich aber gar nicht schlimm. Man kann genauso gut als Taxifahrer existieren und seine geistigen Interessen anders ausleben. Das machen ja auch viele. Vor allem persische Taxifahrer in Köln sind oft hochgebildet und haben Bücher dabei – und hören das Philosophische Radio.

Also Ihre Sendung im WDR 5. Haben Sie auch Erfahrung als Taxifahrer?

Nicht direkt, aber ich habe während des Studiums viel gejobbt: Ich habe am Fließband gearbeitet und bin lange LKW gefahren. Ich habe alles Mögliche gemacht, und gerade das ist für mich heute wichtig. Wenn man geisteswissenschaftliche Fächer studiert, betritt man eine ganz andere Welt. Am Fließband hat man es hingegen mit Menschen zu tun, die ganz anders reden, die ihre eigenen Probleme völlig anders wahrnehmen. Das war damals eine sehr wichtige Schule für mich – und zwar in erster Linie eine Sprachschule. Ich finde es gerade für Geisteswissenschaftler wichtig, dass es dieses Korrektiv gibt, dass man viele Lebenswelten kennenlernt, nicht nur seine eigene. Mir kommt das heute sehr zugute, dass ich während des Studiums immer diesen Ausgleich hatte.

Heute stehen Studierende unter größerem Zeitdruck. Wie können sie dennoch für diese Art Ausgleich sorgen?

Meine drei Kinder sind jetzt alle junge Erwachsene, zwei studieren schon und meine Tochter macht nächstes Jahr Abitur. Insofern habe ich einen ganz guten Draht zu diesen Jahrgängen und weiß so ein bisschen, was deren Problem ist. Ich sehe hier eine Generation, die sehr brav ist und sehr schnell bereit, Erwartungen anderer zu erfüllen. Viele trauen sich nicht, Dinge zu tun, von denen andere sagen, sie seien risikoreich. Was mir bei dieser Generation tendenziell fehlt, ist die eigene Leidenschaft.
Ich denke eigentlich anders herum. Daher auch das Beispiel des Taxifahrers: Wenn man die Entscheidung getroffen hat, dass die eigenen Leidenschaften im Mittelpunkt stehen dürfen, dann ergibt sich alles andere eigentlich von selbst. Dann landet man auch nicht im Taxi. All diejenigen, die damals mit mir den Satz gehört haben, dass sie in die Arbeitslosigkeit studieren, haben heute einen Wohnsitz – und zwar nicht unter der Brücke, sondern in Eigentumswohnungen. Niemand ist wirklich auf die Schnauze gefallen.

Gibt es dann überhaupt ein Problem?

Man muss bereit sein sich von dem zu lösen, was die jüngere Generation heute „Druck“ nennt. Überall gibt es Druck, und wenn man fragt, wo der eigentlich herkommt – ist es das Elternhaus, sind es die Lehrer, ist es die Uni, seid ihr es selbst? – dann fängt es an, mysteriös zu werden. Dieser Druck ist ein Phantomdruck. Vielmehr müssten sie sagen: Eigentlich geht es mir gut. Ich bin gebildet und ich gehöre einer Generation an, die kostbar ist, weil es nicht so viele junge Leute gibt.
Das sollte meiner Meinung nach viel größere Freiheitsspielräume eröffnen, als sich die meisten das selbst einräumen. Ich mache oft eine Kontrollfrage, wenn ich mit jungen Leuten philosophiere: „Wer hat das bessere Leben beziehungsweise wird das bessere Leben haben: Du oder deine Eltern?“ Ganz viele sagen: „Meine Eltern.“ Dann denke ich: Wie bescheuert ist das denn! Die Apokalypse stand schon oft bevor, die Zukunft war schon immer dunkel, aber die eigene ist dann meistens doch ganz gut.

Aber es gibt doch die Fridays for Future-Bewegung. Da zeigen junge Menschen doch Leidenschaft und Engagement.

Ja, und es wird noch sehr viel mehr passieren, weil wir in einer spannenden Zeit leben. Aber der erste Schritt in Richtung Selbstbefreiung ist, sich mit dem Mysterium „Druck“ auseinanderzusetzen. Man muss hin und wieder Sand ins Getriebe streuen oder einfach mal clever blaumachen, wenn alles zu viel wird – auch an der Uni. Wenn man mit Bedingungen nicht einverstanden ist, muss man sie ändern, anstatt das Problem zu individualisieren und frustriert zu überlegen, warum das so ist.

Sie kamen nach dem Studium zum Sender Freies Berlin – auch in einer spannenden Zeit.

Ja, das war kurz nach der Wende. Ich habe da ganz klassisch volontiert und war danach als Redakteur fest angestellt. Ich habe also eine klassische öffentlich-rechtliche Laufbahn eingeschlagen. Damals wurden Redakteure mehr und mehr zu Administratoren, die das Programm verwalteten, aber nicht mehr selber machten. Ich habe allerdings am liebsten immer selber Radio gemacht. Als Redaktionsleiter musste ich mich dann entscheiden: Will ich Chef sein und Macht haben oder will ich frei sein und ins Risiko gehen? Es hat zwei Jahre in mir gearbeitet, bevor ich zu dem Schluss kam, dass ich nicht völlig verrückt bin, so eine Stelle aufzugeben – was damals natürlich alle gesagt haben.

Damit verbunden war dann auch Ihre Rückkehr nach Köln.

Genau. Die Art Radio, die ich mache, heißt technisch ausgedrückt „Gehobenes Wortprogramm“. Dafür ist Köln mit dem WDR und dem Deutschlandfunk einfach der interessanteste Standort. Ich bin damals zu einem Casting nach Köln gekommen, weil sie Moderatoren für das neue geschaffene WDR 5 Programm suchten. Sie haben mich genommen, und damit hatte ich zumindest dieses Standbein und die Kündigung in Berlin wurde realistisch.

Haben Sie diesen Schritt seither bereut?

Nein, mir liegt das freiberufliche Leben sehr. Es gibt bestimmte Arbeitsformen, die Festangestellten einfach nicht möglich sind. Ich arbeite zum Beispiel im Schwimmbad. Das heißt, ich habe zuhause einen Text geschrieben, aber um ihn zu „verflüssigen“, um den Kopf frei zu kriegen und in die nächste Arbeitsphase eintreten zu können, mache ich Sport. Ein festangestellter Mensch könnte seinem Chef niemals sagen, dass er jetzt besser mal schwimmen gehen sollte. Ich kann das.

Sie moderieren bei WDR 5 unter anderem „Das Philosophische Radio“. Wie bereiten Sie Ihre Sendung vor? Haben Sie ein Redaktionsteam?

Gemessen an dem Erfolg der Sendung ist der Unterbau total schmal. Ich habe eine Redakteurin, die aber viele andere Hauptaufgaben erfüllt. Meine Sendung macht sie nur aus Leidenschaft noch oberndrauf. Und ich habe einen freien Kollegen, der mir hilft, Gäste einzuladen und zu klären, welche Texte ich zur Vorbereitung eines Themas lesen soll. Man kann also auch mit relativ geringem Einsatz etwas Tolles auf die Beine stellen.

Hörer können in der Sendung anrufen und Fragen stellen. Wie schafft man es in so einer Situation, die manchmal etwas unklaren Anliegen der Anrufer auf den Punkt zu bringen?

Das ist zuallererst eine Frage der Haltung. Die Art von Philosophie, die ich mache, ist ja nicht akademisch, sondern eher lebensweltlich orientiert. Die allermeisten Hörer sind Autodidakten, die das nicht studiert haben. Anrufer weichen manchmal anscheinend vom Thema ab, das macht andere Hörer nervös, weil sie sich fragen, was jetzt passiert. Aber ich finde Störungen gut und glaube, dass sie ein Thema weiter schärfen können. Das, was manche Hörer sagen, zwingt mich dazu zu erklären, was ich stattdessen meine. Damit habe ich das Thema weiterentwickelt. Das ist der Sinn der Störung. Warum sollte ich da ungeduldig werden?

 

Das Interview führte Eva Schissler.

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