Realisten und Idealisten - Europa braucht sie beide
Das omnipräsente Europa braucht nicht nur Idealisten. Realistische Betrachtungen vom KölnAlumni-Symposium bis zur Justiz für Menschenrechte
Wie viele „Europas“ es wirklich gibt, wusste Angelika Nußberger nicht nur während des 13. KölnAlumni-Symposiums zu erklären. In ihrer aktuellen Haupttätigkeit setzt sie sich für ein Europa der Menschenrechte ein.
Seit 2011 lebt Prof. Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger ein Doppelleben – also im übertragenen Sinne. Denn seitdem ist sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie sitzt in der ersten Reihe, wenn es um die Sanktionierung ganzer Staaten geht, die gegen Menschenrechte verstoßen. Die Professorin für Verfassungs- und Völkerrecht sowie Direktorin des Instituts für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln bleibt ihrer familiären Heimat aber ebenso treu. Das schließt neben ihrem Mann und ihren beiden erwachsenen Söhnen in Köln auch die Universität ein.
Eine logische Konsequenz, dass sie am 22. April 2016 der Einladung zum KölnAlumni-Symposium folgte und auch ihre Sicht auf das aktuelle Thema der Veranstaltung darstellte: „Europa: Von Grenzen und Gemeinsamkeiten. Zustand und Perspektive der Europäischen Union“.
Der Diskussion um Europas Grenzen und allgemeine Barrieren im Kopf begegnete sie mit offenherzigem Verstand und schlagfertigen Argumenten. „Europa“ halte so ziemlich für alles seinen Namen her, betonte Prof. Nußberger schon zu Beginn des Symposiums. Der geografische Begriff sei ein anderer als die unterschiedlichen institutionellen oder politischen Definitionen. Als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist sie auch dazu berufen, die Positionen des Europarats zu erklären – der Institution, die seit ihrer Gründung 1949 die Türkei zum Beispiel als Mitglied hat. „Worüber reden wir also, wenn Flüchtlinge von der Türkei aus nach Europa fliehen wollen?“ Sie sieht ein kleines und ein großes Europa. Selbst das kleine ist keine homogene Einheit, das ist auch gut so. Nur wird es dadurch leider häufig schwer verständlich.
Die 800 Anwesenden in der Aula der Universität während des Symposiums waren über die Art und Weise, wie Angelika Nußberger Dinge erklärte, spürbar dankbar. Sie schaffte es, für komplexe Sachverhalte ein bildliches Beispiel zu geben und machte dies auch als einen eigenen Wunsch für den Themenkomplex Europa deutlich: „Es braucht eine Bild-Zeitung für Europa. Die gemeinsamen geschichtlichen und demokratischen Werte müssen viel einfacher erklärt und den Menschen nahegebracht werden.“ Wie notwendig das in der Umsetzung ist, haben die Auswirkungen des Brexit-Referendums in Großbritannien bewiesen. Ein Großteil der Menschen, die ihre Stimme abgaben, befasste sich erst danach mit der wahren Bedeutung ihres Votums.
Wie realistisch der Brexit werden könnte, dachten auch die weiteren Podiumsgäste im April noch nicht: Prof. Simon Bulmer, (Professor für "European Politics" an der University of Sheffield), Dr. Martin Heipertz (Referatsleiter "Grundsatzfragen der europäischen Politik" im Bundesministerium der Finanzen), Dr. Yvonne Nasshoven (Referentin für Grundsatzfragen der EU in der Zentrale des Auswärtigen Amtes) und der Moderator Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Wessels (Direktor des Centrums für Türkei und EU Studien der Universität zu Köln (CETEUS)). Sie alle präsentierten sich als europäische Idealisten und sahen in einer Lösung der angesprochenen Krisenthemen über Geflüchtete, den Brexit und die Eurorettung eher neue Chancen für die Europäische Union.
Doch warum kann man „Europa“ immer nur mit Idealismus begegnen? „Ich würde mich eher als europäische Realistin beschreiben“, beantwortet die 53-Jährige diese Frage. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist eine Erfolgsgeschichte, weil dort realistisch durchsetzbare Rechte gesprochen werden. „Hier werden zwar die gleichen Rechte für alle in Europa eingefordert. Unterschiede zwischen einem Land wie der Schweiz und der Ukraine werden aber in mancherlei Hinsicht, etwa mit der Zubilligung eines Ermessensspielraums bei der Beurteilung besonders sensibler Sachverhalte, doch berücksichtigt. Außereuropäische Staaten werden nicht in das Konventionssystem einbezogen. Man kann Standards nicht über ein Gericht einfordern, wenn es an den grundlegenden Voraussetzungen für ihre Durchsetzung fehlt.“
Neben einem idealistischen Denken auch realistisch zu handeln, war Angelika Nußberger bereits vor ihrer Berufung zur Menschenrechts-Richterin wichtig. Das äußerte sich auch in ihrer Wahl zur Prorektorin der Universität zu Köln für akademische Karriere, Diversität und Internationales im Jahr 2010. Wie viel ist davon noch in ihrem aktuellen Leben präsent? „Das Internationale ist Tag für Tag für mich präsent – die Stadt Straßburg steht dafür ebenso wie die Arbeit in einem aus 47 Nationalitäten zusammengesetzten Gremium.“ Akademische Karrieren betrachtet sie weiterhin mit großem Interesse. Ebenso die Qualität der Bildung: „Hier sind vor allem interdisziplinäre und innovative Ansätze wichtig. Die juristische Wissensvermittlung war auf den Vergleich zu den westlichen Nachbarstaaten konzentriert. Im Zusammenhang mit Menschenrechten und vor allem auch unter dem Aspekt einer gesamteuropäischen Geschichte ist der Blick nach Polen oder die Türkei aber ebenso wichtig. Das hat sich nicht zuletzt durch neue fakultätsübergreifende Projekte wie das CCCEE (Cologne-Bonn Centre for Central and Eastern Europe) verbessert.“
Ihren Blick auf vielfältige Themen hat Angelika Nußberger stets geschärft. Und wichtiger noch: Sie hat dabei den Durchblick behalten. Das wünschen sich zurzeit viele Menschen für den Themenkomplex „Europa“. Ihre Anwesenheit auf weiteren Veranstaltungen der Universität zu Köln dazu wäre daher auch künftig eine gern gesehene Bereicherung.