„Interdisziplinarität ist heute wichtiger denn je“
VON KÖLNALUMNI
Frau Fuchs-Schündeln, seit September 2024 sind Sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Hier arbeiten verschiedene Disziplinen eng zusammen und untersuchen die großen Fragen unserer Gesellschaft. Warum sind Sie als Ökonomin Präsidentin eines sozialwissenschaftlichen Instituts geworden? Was macht aus Ihrer Sicht das Arbeiten am WZB besonders spannend?
Zunächst einmal: Die Ökonomie ist genauso wie die Soziologie und die Politikwissenschaften auch eine Sozialwissenschaft. Es geht uns in der Volkswirtschaftslehre um das Wohlergehen der Menschen, und wenn wir dieses auch primär aus der wirtschaftlichen Perspektive heraus untersuchen, so spielen auch andere Faktoren eine Rolle.
Am WZB ist einzigartig, dass wir die Erkenntnisse der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven zusammenbringen, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Die großen Themen, die wir am WZB bearbeiten – wie Bildung, Migration, Demokratie, Gesundheit, Klimawandel, Arbeitsmärkte – haben alle im letzten Jahrzehnt an Relevanz zugenommen, und sie betreffen alle das gesellschaftliche Zusammenleben in seiner ganzen Komplexität. Daher ist die Interdisziplinarität heute wichtiger denn je.
Was ist Ihnen aktuell besonders wichtig – wo setzt das WZB an, um Erkenntnisse für die großen Herausforderungen unserer Zeit zu liefern?
Wir möchten die interdisziplinäre Zusammenarbeit am WZB weiter verstärken und diese auch in die Wissenschaft hinaustragen. Interdisziplinarität bedeutet nicht zwangsläufig, dass Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen an einem konkreten Projekt zusammenarbeiten. Wichtig ist jedoch, dass wir über die Disziplingrenzen hinweg im ständigen Dialog bleiben und unsere Erkenntnisse teilen. Nur so können wir Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen erarbeiten.
Im Moment beschäftigt uns insbesondere die zunehmende Bedrohung der liberalen Demokratie. Daher verstärken wir unsere Demokratieforschung und widmen auch unsere erste jährliche interdisziplinäre WZB-Konferenz der Zukunft der Demokratie. Mit dieser neuen interdisziplinären Konferenzreihe möchten wir den Informationsaustausch zwischen den Disziplinen verstärken, denn in der Regel sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf disziplinären Konferenzen unterwegs. Ich bin sehr glücklich, dass uns viele hervorragende Einreichungen aus allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen erreicht haben.
Sie arbeiten an einer sehr interessanten Schnittstelle, denn das WZB hat den Anspruch, die gesellschaftliche Debatte zu prägen und auch in der Politikberatung eine Rolle zu spielen. Wie funktioniert der Transfer sozialwissenschaftlicher Forschungserkenntnisse für Gesellschaft und Politik?
Transfer in Gesellschaft und Politik hinein funktioniert über eine Vielzahl von Kanälen: die Veröffentlichung von Artikeln, die an ein breiteres Publikum gerichtet sind, die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen, die Mitarbeit in Gremien, die aktive Nutzung sozialer Medien. Dabei steht die Wissenschaftskommunikation insgesamt vor zwei großen Herausforderungen. Die eine ist die zunehmende Fragmentierung der Medien, die es erschwert, verschiedene Zielgruppen zu erreichen. Die andere ist die pseudowissenschaftliche Sprache von wissenschaftsfeindlichen Strömungen, die es für die breite Öffentlichkeit immer schwieriger macht, Fakten von Fake News zu unterscheiden. Hier müssen wir uns in der Wissenschaft gemeinsam Gedanken machen, wie wir diesen Herausforderungen entgegentreten können.
Neben dem Austausch mit der breiten Öffentlichkeit, der für uns am WZB übrigens in beide Richtungen eine wichtige Rolle spielt, ist für die Politikberatung der direkte Austausch mit Politikerinnen und Politikern wichtig. Auch dieser findet auf vielen Ebenen statt. So diskutieren in der WZB-Reihe „Junge Wissenschaft trifft Politik“ Forscherinnen und Forscher mit politischen Entscheidungsträgern. Wichtig für den Transfer in die Politik ist die Bereitschaft beider Seiten, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen. Je kontinuierlicher dieser Dialog stattfindet, und je früher im politischen Entscheidungsprozess, desto besser.
Sie forschen zu weltweiten Unterschieden im Arbeitsverhalten und haben u. a. den steigenden Trend zu Teilzeit in Deutschland untersucht. Weniger zu arbeiten ist der Wunsch von immer mehr Menschen. Aber können wir es uns als Gesellschaft im Zuge von Fach- und Arbeitskräftemangel leisten, immer weniger zu arbeiten?
Erst mal ist der Rückgang der Arbeitszeiten eine positive Errungenschaft wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung. Mit steigendem Wohlstand können wir uns nicht nur mehr Konsum leisten, sondern auch mehr Freizeit. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die Arbeitszeiten in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern abgenommen haben, und warum in reicheren Ländern weniger gearbeitet wird als in ärmeren. Gleichzeitig stellt der Trend zu kürzeren Arbeitszeiten in Verbindung mit der demografischen Entwicklung unsere Wirtschaft vor große Herausforderungen, denen sich die Politik jetzt widmen muss.
Kurzfristig gibt es verschiedene Ansatzpunkte: eine Erhöhung des Arbeitskräfteangebots von älteren, jüngeren oder weiblichen Erwerbspersonen, stärkere Anreize für die Erwerbstätigkeit von Personen, die derzeit Bürgergeld beziehen, sowie eine gesteigerte Zuwanderung. Gerade bei der Erhöhung der Arbeitszeiten von Frauen sehe ich sehr viel Potenzial, aber eine große Zurückhaltung der Politik, das Steuersystem so zu reformieren, dass Zweitverdiener mehr Anreize zur Arbeit haben. Die Unternehmen werden Digitalisierung und KI nutzen müssen, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und damit dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.
Ihre Forschungsgruppe „Ungleichheit, soziale Mobilität und Wachstum“ befasst sich mit der makroökonomischen Analyse von Verteilungsfragen und der Entwicklung von Ungleichheit im Querschnitt wie auch im Zeitablauf. Vier konkrete Themen beschäftigen Sie dabei besonders: gerechtes Wachstum, intergenerationale Mobilität, Endogenität von Präferenzen und Gleichstellung der Geschlechter. Welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflussen die soziale Mobilität am stärksten, und welche politischen Maßnahmen könnten helfen, Chancengleichheit nachhaltiger zu fördern?
Soziale Mobilität ist aus verschiedenen Gründen fundamental wichtig für die Gesellschaft. Zum einen wird wirtschaftliche Ungleichheit eher als gerecht empfunden und akzeptiert, wenn das Einkommen von der Leistung bestimmt wird und nicht von Faktoren wie die Herkunft oder das Elternhaus. Daher stärkt soziale Mobilität den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zum anderen ist es für das Wirtschaftswachstum unerlässlich, dass sich alle Menschen mit ihren jeweiligen Talenten in den Arbeitsmarkt einbringen können. In allen Kindern können künftige Unternehmerinnen oder Erfinder schlummern. Nur wenn alle die Chance haben, diese Talente zu entwickeln und umzusetzen, werden wir nachhaltiges Wachstum ermöglichen.
Ein wichtiger Teil der Rahmenbedingungen, die die soziale Mobilität prägen, liegt im Einflussbereich des Staates, insbesondere das Bildungswesen. Hier gibt es noch viel Potenzial zur Verbesserung. Wir sind in Deutschland auf das Humankapital unserer zukünftigen Arbeitnehmer angewiesen. Und die Forschung zeigt ganz klar, dass sich Investitionen in Kinder auch finanziell für den Staat lohnen: Im Durchschnitt zahlen sie sich um ein Vielfaches aus, da die geförderten Kinder dadurch später ein höheres Einkommen erzielen und mehr Steuern bezahlen.
Sie sind Teil des Expertenteams der „Initiative Handlungsfähiger Staat“ unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Initiative verfolgt das Ziel, die Effizienz und Bürgernähe der deutschen Verwaltung zu stärken und die richtigen Hebel zu finden, klar benötigte Reformen zu ermöglichen – also den Reformstau in Deutschland zu brechen. 54 erfahrene Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft erarbeiten hier gemeinsam konkrete Ansätze, wie staatliche Strukturen in Deutschland zukunftsfähig gestaltet werden können. Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen Punkte in diesen Bereichen, die zeitnah angegangen werden müssten? Wie können wir unseren Sozialstaat zukunftssicher machen, ohne soziale Gerechtigkeit zu opfern?
Wir müssen den Sozialstaat zukunftssicher machen, gerade um soziale Gerechtigkeit nicht zu opfern. Der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Form ist viel zu kompliziert, und das ist aus zweierlei Sicht ein Problem: Erstens macht ihn das in der Verwaltung sehr teuer, denn viele Stellen und Ministerien sind damit beschäftigt, die verschiedenen Sozialleistungen anzubieten und im Einzelfall kompliziert zu berechnen. Zweitens kommt die Hilfe durch die Komplexität oft gar nicht bei den Hilfebedürftigen an.
Daher haben wir im Rahmen der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ Reformvorschläge erarbeitet, die die Funktionsfähigkeit des Staates verbessern sollen. Dazu zählen die Bündelung aller Zuständigkeiten für Sozialleistungen in einem einzigen Bundesministerium sowie die Vereinheitlichung der Begriffe, die den Anspruch auf solche Leistungen definieren. Schließlich sieht die Initiative eine weitgehende Pauschalierung der Regelleistungen vor, um eine automatische und effizientere Abwicklung zu ermöglichen. Erfreulicherweise wurden einige unserer Vorschläge in den Koalitionsvertrag aufgenommen.
Soziale Gerechtigkeit lässt sich nur durch eine solche Reform des Sozialstaats erhalten, denn gerade in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums können wir uns einen ineffizienten Sozialstaat nicht leisten. Gleichzeitig müssen dabei allerdings auch die Ansprüche auf Einzelfallgerechtigkeit zurückgeschraubt werden. Die Politikerinnen und Politiker sollten so ehrlich sein, das klar zu sagen.
Die aktuellen Eingriffe in die Hochschul- und Forschungslandschaft in den USA bewegen aktuell immer mehr Forscher:innen zu der Überlegung, das Land zu verlassen. Gemeinsam mit anderen führenden deutschen Wissenschaftler:innen engagieren Sie sich in der Kampagne „Hundert kluge Köpfe für Deutschland“, die sich für ein gezieltes Abwerbeprogramm für exzellente Forschende aus den USA einsetzt, um den Wissenschaftsstandort und die Innovationskraft in Deutschland zu stärken. Warum sollten Forscher:innen gerade nach Deutschland kommen?
Die Wissenschaftsfreiheit ist in Deutschland ein hohes und geschütztes Gut. Sie ist die unverzichtbare Grundlage für die Ausübung von Wissenschaft, denn ideologisch motivierte Eingriffe von außen behindern die freie Entfaltung von Ideen und somit die Forschung.
Doch das allein reicht nicht aus, um die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland zu locken. Zwar verfügt Deutschland bereits über eine gut ausgebaute wissenschaftliche Infrastruktur, wir müssen uns da nicht verstecken. Gleichzeitig können wir aber noch mehr unternehmen, um die Besten anzuziehen. Zusätzliche finanzielle Mittel sind hier kurzfristig unerlässlich.
Weitere Ansatzpunkte sind allerdings auch, unsere Willkommenskultur zu stärken, Integration aktiv zu fördern, Englisch als Arbeitssprache auch in Verwaltungsverfahren zu etablieren, Unterstützung bei Behördengängen und der Organisation von Kinderbetreuung anzubieten sowie Verfahren zu beschleunigen.
Ihr akademischer Werdegang begann in Köln – und Sie sind einen eher ungewöhnlichen Weg gegangen, bis Sie schließlich Volkswirtin wurden: Sie haben zunächst angefangen, Regionalwissenschaften/Lateinamerika zu studieren. Während eines DAAD-Aufenthalts in Argentinien, wo eine schwere Wirtschaftskrise herrschte, erkannten Sie, wie wichtig die wirtschaftliche Entwicklung für das Wohlbefinden der Menschen ist. Zurück in Deutschland, schrieben Sie sich zusätzlich für Volkswirtschaftslehre ein und schlossen dann beide Fächer mit dem Diplom ab. Inwiefern hat dieses Schlüsselerlebnis bzw. das Studium an zwei Fakultäten Ihren Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften und vielleicht auch Ihre generelle Herangehensweise an Themen beeinflusst?
Durch das Studium der Regionalwissenschaften/Lateinamerika habe ich die Interdisziplinarität von Anfang an gelebt und als große Bereicherung empfunden. Somit schließt sich mit meiner Position am WZB nun quasi der Kreis. Gerade mein Studienaufenthalt in Argentinien hat mir vor Augen geführt, wie eng wirtschaftliche und politische Entwicklungen miteinander verknüpft sind. Ganz konkret habe ich die verschiedenen Herangehensweisen und Fragestellungen der beiden Fächer und Fakultäten immer als Bereicherung empfunden.
Was ist Ihre Lieblingserinnerung an Ihre Zeit an der Uni Köln? Was verbindet Sie noch heute mit Ihrer Alma Mater?
Ich habe sehr viele positive Erinnerungen an meine Zeit an der Uni Köln. Meine Lieblingserinnerung ist allerdings die Erstsemesterfahrt der WiSo-Fachschaft in die Eifel. Auf dieser Fahrt habe ich viele Freunde kennengelernt, denen ich heute noch eng verbunden bin.
Zum Abschluss: Ihr Werdegang und Ihre Karriere sind ein inspirierendes Beispiel für unsere Studierenden und Absolvent:innen. Es wirkt, als hätten Sie genau den beruflichen Ort gefunden, an dem Sie Ihre Expertise, Ihre Erfahrungen und Ihre Leidenschaft voll entfalten – und damit spürbar etwas bewegen. Was raten Sie auf der Suche nach dem eigenen Weg? Wie findet man den Bereich, der nicht nur fordert, sondern auch fördert – und in dem man wirklich für etwas brennen kann?
Ich glaube, es ist ganz wichtig, Dinge auszuprobieren. Nur so lernt man Neues kennen und findet heraus, was zu einem passt. Ich habe zum Beispiel die Volkswirtschaftslehre rein zufällig kennengelernt, da sie ein Pflichtteil im Studium der Regionalwissenschaften waren. Nach dem Abitur wäre es mir nie in den Sinn gekommen, Volkswirtschaftslehre zu studieren, aber direkt in der ersten Vorlesung hat mich das Fach fasziniert. Wenn man mit anderen Menschen spricht, verschiedene Veranstaltungen besucht und sich vielfältig einbringt und interessiert zeigt, so findet man seine Leidenschaften am besten heraus.
Sich auf Neues einzulassen, erfordert oft Mut, ist meiner Erfahrung nach aber unerlässlich, um sich weiterzuentwickeln. Und zuletzt: Im Nachhinein sieht vieles gradlinig aus, was eigentlich Zufällen geschuldet war. Insofern rate ich zur Unverzagtheit und dazu, das Leben zu genießen.
Wiso-Alumna Nicola Fuchs-Schündeln (*1972) ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie studierte Regionalwissenschaften/Lateinamerika sowie Volkswirtschaftslehre an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (1992 bis 1999), promovierte in Wirtschaftswissenschaften an der Yale University, war Assistant Professor of Economics an der Harvard University und hat die Ehrendoktorwürde der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg inne. Nicola Fuchs-Schündeln ist Programmdirektorin des Programmbereichs „Macroeconomics and Growth“ am Centre for Economic Policy Research (CEPR) in London/Paris und gewähltes Mitglied der Econometric Society. Sie erhielt 2018 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung in Deutschland, und 2016 den Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und in den wissenschaftlichen Beiräten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und der Deutschen Bundesbank. Zudem ist sie Mitglied zahlreicher internationaler Forschungsnetzwerke.