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Foto: Thomas Arntz | KölnAlumni
Ein Gespräch mit Nobelpreisträger Benjamin List und Prof. Dr. Hans-Günther Schmalz

„Aber dann dachte ich: Ich fange einfach mal an.“

Organische Chemie als gemeinsame Leidenschaft: Wie Nobelpreisträger Professor Benjamin List und der erst kürzlich emeritierte Professor Hans-Günther Schmalz direkt zu Beginn unseres Gesprächs feststellen, sind sie einander zuerst in wissenschaftlichen Publikationen „begegnet“. Seit 2004 ist List der Universität zu Köln als Honorarprofessor verbunden. Seitdem ist ihre Zusammenarbeit auch auf persönlicher Ebene immer weiter gewachsen – insbesondere in der gemeinsamen Betreuung von Doktorand:innen im Department für Chemie. Mittlerweile sind beide freundschaftlich verbunden. Schmalz hielt die Laudatio bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät an Benjamin List. Bei dieser Feier wurde List nicht nur als Spitzenforscher geehrt, sondern auch als KölnAlumni-Ehrenmitglied und inspirierender Lehrender, der an unserer Universität viele Spuren hinterlassen hat.

Gemeinsam mit Professor Schmalz besuchen wir Benjamin List im Oktober 2023 im Max-Planck-Institut (MPI) in Mülheim an der Ruhr – in seinem Büro im neunten Stockwerk mit einem Panoramablick auf das Ruhrgebiet: Duisburg, Oberhausen und Essen. Dort zeigt sich die rege Zusammenarbeit der beiden schon, bevor unser Gespräch überhaupt losgeht. Direkt bei unserer Ankunft wird Hans-Günther Schmalz in Termin­anfragen eingebunden – und geht nach dem Treffen mit gleich sechs Zusagen an Doktorand:innen der Arbeitsgruppe List nach Hause, die er als Zweitprüfer gemeinsam mit List zur Promotion führen wird. Darüber hinaus verbindet sie eine gemeinsame fachliche Heimat in Frankfurt, wo beide mit dem Titel Dr. phil. nat. (doctor philosophiae naturalis) promoviert wurden – diesem, wie List sagt „verrückten Doktortitel, den es eigentlich nur in Frankfurt gibt“…

Woraus besteht der Mensch? Woraus besteht die Welt? Als Kind beschäftigen Benjamin List solche grundlegenden, nahezu philosophischen Fragen. „Irgendwann habe ich gehört: Die Welt besteht aus Molekülen und Atomen. Woanders habe ich gehört, dass Chemiker:innen was davon verstehen, wie Atome und Moleküle miteinander wechselwirken. Also bin ich davon ausgegangen, dass Chemiker:innen allwissend sind und somit auch verstehen, woraus Materie ist – und letztlich auch, warum wir hier sind.“ List hatte damals zwar noch keinen Chemieunterricht in der Schule – führte mit einem Freund aber schon erste abenteuerliche Experimente mit Schwarzpulver im selbst eingerichteten Keller-Labor durch, die auch manchmal schiefgingen. Als ihm später klar wurde, dass die Chemie doch nicht die Antwort auf alle Fragen bot, war es zu spät: „Ich war schon angefixt – man konnte wirklich so unglaublich tolle Sachen mit der Chemie machen“, lacht Benjamin List.

Foto: Thomas Arntz | KölnAlumni

Sein Interesse an grundlegenden philosophischen Fragen hat bis heute Bestand. „Ich weiß, dass weder die Chemie noch die Physik wirklich die Welt im Innersten verstehen – da kommen wir alle an eine Grenze. Die Grundlage von aller Materie ist nicht zu greifen mit dem menschlichen Verstand. Man kann so tun, als würde man es verstehen. Aber unser Bild der Realität wird immer gefiltert. Viele Einschränkungen sind vielleicht gar nicht Eigenschaft der Realität, sondern werden erst durch unseren begrenzten Verstand in unser Weltbild gebracht.“ Professor Schmalz stimmt zu, dass Naturwissenschaftler:innen mit ihren Modellvorstellungen zwar Systeme entwickeln, in denen wir Fakten einordnen und wunderbar beschreiben können, „das heißt aber nicht, dass wir die Welt verstehen, nur weil wir ein Legohaus bauen können, sondern wir können wesentliche Merkmale eines Hauses mit Lego reproduzieren. Wir haben zwar alles im Rahmen unserer Denkmodelle fantastisch detailliert sortiert, aber am Rande unseres Modell-Baukastens hört unsere Möglichkeit auf. Was dahinter ist, können wir nicht beschreiben. Wir sollten bescheiden bleiben – obwohl wir auch stolz sein dürfen, was wir alles schon beschreiben können.“

Und stolz kann auch Benjamin List sein – denn mit seiner Entdeckung, dass sich auch kleine organische Moleküle hervorragend als Katalysatoren eignen, gehört er zu den Pionieren eines neuen Forschungsfeldes in der Chemie: Die Organokatalyse erlaubt es, mit Hilfe kleiner organischer Moleküle, bei denen es sich um Naturstoffe oder auch um synthetische „Designerverbindungen“ handeln kann, chemische Reaktionen zu beschleunigen und deren Selektivität zu steuern – unter Einsparung von Energie und Ressourcen. Für seine Forschung wurde Benjamin List zusammen mit dem in den USA forschenden Schotten David W.C. MacMillan, der fast zeitgleich in Berkeley eine ähnliche Reaktion entdeckt hatte, mit dem Nobelpreis für Chemie 2021 geehrt. Mit der asymmetrischen Organokatalyse wurde ein „geniales Werkzeug für die Synthese, den Aufbau von Molekülen entwickelt“, begründete das Komitee seine Entscheidung.

Organokatalyse ist eine Schlüsseltechnologie für ganz grundlegende Verfahren, die zentrale Bedeutung für unser alltägliches Leben haben: Sie wird beispielsweise zur Herstellung von Arzneimitteln oder Duftstoffen verwendet und hat dazu beigetragen, Chemie umweltfreundlicher zu machen. Die zuvor gängigen industrieerprobten Katalysatoren basierten meist auf Metallen wie Palladium, Nickel oder Titan, welche i.d.R. aufwendig wieder abgetrennt oder recycelt werden mussten.

Die Inspiration für diese bahnbrechend neue Entdeckung fand List in der Katalyse chemischer Reaktionen in der Natur. „Ich realisierte, dass die Natur im Gegensatz zu uns Chemiker:innen eben nicht immer ein Metall braucht, sondern ein anderes Arsenal zur Verfügung hat – das war sozusagen der erste Aha-Moment.“ List schmunzelt: „Es gab eigentlich schon ein Verfahren, in dem Prolin als Katalysator eingesetzt wurde und das kannten die Organiker eigentlich auch. Man hat das aber als eine ganz exotische Ausnahme von der Regel – als Skurrilität – betrachtet, dass immer Metalle Katalysatoren sein müssen.“ Über 100 Jahre war man tatsächlich davon ausgegangen, dass chemische Katalysatoren immer metallhaltig sein müssen. „Unsere Entdeckung war im Prinzip, dass man auch mit kleinen organischen Molekülen Katalyse betreiben kann.“

In der Tat wurde diese Entdeckung, seine allererste wissenschaftliche unabhängige Arbeit, die Grundlage für die Etablierung eines komplett neuen Feldes für die chemische Katalyse mit organischen Katalysatoren. List erinnert sich: „Ehrlich gesagt, habe ich am Anfang gedacht, dass es nicht funktionieren wird, sonst hätte es ja wahrscheinlich jemand vor mir entdeckt. Aber dann dachte ich: Ich fange einfach mal an.“ Wie Professor Schmalz direkt anmerkt, war Lists Entdeckung das eine – das andere war jedoch, was er daraus gemacht hat: „Er entdeckte nicht einfach nur ein kurioses Verfahren, sondern er sah das Potential dahinter.“ Das war, glaubt Schmalz, das Entscheidende. „Nachdem es funktioniert hatte, hat Benjamin List seine Entdeckung in zwei Jahren quasi über die gesamte organische Chemie drübergelegt und festgestellt: Das geht hier überall! Und der Rest der Community dachte: Wow! Da hat einer nicht nur was entdeckt, sondern er ist auch ein Meister, der daraus was richtig Großes schnitzt.“

Heute werden organische Katalysatoren vielfach eingesetzt. Besonders freut sich List hier über die Verwendung im Kontext der Herstellung von HIV-Medikamenten. „Die HIV-Pandemie war im Grunde schlimmer als Corona, zig Millionen Menschen sind daran gestorben. Es gibt bis heute keinen Impfstoff, weil sich das Virus so schnell verändert. Aber es gibt mittlerweile Medikamente, die dabei helfen, ein normales Leben zu leben. Diese Medikamente werden von Chemiker:innen designt und hergestellt – und dabei kommt die Organokatalyse zum Einsatz. Es ist großartig, dass diese Entdeckung zu einem wirklichen Impact geführt hat, ganz konkret für unser Leben. Das hat am Ende natürlich alles zur Reise nach Stockholm beigetragen. Wenn es nur bei der reinen Entdeckung geblieben wäre, hätte es vielleicht nicht gereicht.“

Aber am Ende hat es gereicht und das, gerade weil Benjamin List mit seiner Entdeckung thematisches Neuland betreten und zu Beginn in der Rolle eines Außenseiters geforscht hat. Wie traut man sich das – und wie hält man es durch? „Es war am Anfang wirklich so, dass ich dachte, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der das gerade glaubt. Der Einzige, der meint, das wäre was Sinnvolles, weil die gesamte Welt was anderes macht. Dann fühlt man sich schon alleine. Und das ist für mich eine der wichtigsten Take-Home-Messages in Bezug auf diese Entdeckung – und auch auf die Wissenschaft. Wenn man etwas wirklich Grundlegendes entdecken möchte, etwas Fundamentales beitragen will, gehört das wohl als notwendige Bedingung dazu: Einsamkeit! Das ist zwar leider keine hinreichende Bedingung, denn es muss natürlich auch eine gute Idee sein, aber diese beiden Aspekte gehören wirklich dazu: Zu revolutionären Ideen gehört dieses Gefühl der Einsamkeit. Es muss so sein, und wir müssen es auch aushalten. Und dann ist natürlich auch die Frage, wie lange halte ich das aus? Ich hatte großes Glück, dass es bei mir gleich geklappt hat.“

List ist sich nicht sicher, was passiert wäre, wenn es nicht gleich geklappt hätte. Er verweist auf die Medizin-Nobelpreisträgerin aus dem Jahr 2023 – Katalin Karikó: „Was für eine unglaubliche Story! Sie hat so verdient den Nobelpreis für Medizin bekommen, weil sie genau das machen wollte: Vakzine und RNA als Molekül für die Medizin. Sie hatte diese Idee und man hat ihr immer wieder nahegelegt, etwas anderes zu machen. Trotz aller Widerstände hat sie an ihrer Idee festgehalten – das finde ich wirklich bewundernswert!“ Aber, es gibt natürlich auch die Kehrseite vom „Außenseiter-Forschen“, da sind sich Schmalz und List einig. Denn neben diesen Erfolgsgeschichten kann es eben auch passieren, dass sich erst nach Jahren der Forschung zeigt: Die erwartete Entdeckung kommt leider doch nicht – und dann ist vielleicht auch die Karriere vorbei. Für List geht es daher letztlich um eine Balance zwischen Brillanz und wirklichem Durchhaltevermögen, „und irgendwie vielleicht auch darum, dass man verrückt genug ist, es durchzuziehen“.

Auf die Frage, ob er seit seinem Anruf vom Nobelkomitee eigentlich ein Popstar sei, lacht List – und berichtet, dass er gerade von einem Besuch an einer chinesischen Hochschule zurückgekehrt ist, bei dem er von etwa 1.000 Studierenden um ein gemeinsames Selfie gebeten wurde. „Das Schöne ist, wenn, dann bin ich nur ein Popstar in einem kleinen Bereich der menschlichen Aktivität: der Chemischen Synthese. Chemiker:innen kennen mich – aber sobald ich diesen Kontext verlasse, kennt mich hier niemand mehr in Mülheim, außer meinen Nachbarn. Auch wenn ich in Berlin, Hamburg oder Köln bin, kennt mich kein Mensch – und das ist doch irgendwie ganz schön. Ich kann diesen Ruhm so auch ein bisschen genießen, und dann gebe ich auch gerne mal Autogramme und mache Selfies.“

Der Anruf des Nobelkomitees kam zu einer Zeit, in der List gerade sehr zufrieden und glücklich war. Er fühlte sich bereits auf dem Höhepunkt seiner Karriere. „Ich dachte: Wir arbeiten mit den tollsten, aufregendsten Katalysatoren, die wir je hatten. Katalysatoren, die so aktiv sind, wie noch nie irgendein Katalysator war – und wir lösen richtige Probleme.“ Auch die technischen Anwendungen nahmen zu, aussichtsreiche Kooperationen wurden geschlossen und List erinnert sich an eine Party mit seinen Mitarbeiter:innen im Max-Planck-Institut, bei der er innehielt und dachte: „Wow! Ich möchte nichts anderes, ich möchte nirgendwo anders sein, ich brauche auch keine weiteren Preise. Das hier ist das, was ich möchte: dieses Leben und diese Freiheit hier.“

Foto: Thomas Arntz | KölnAlumni

Als Benjamin List den Anruf des Nobelkomitees erhielt, saß er mit seiner Frau beim Frühstück in einem Amsterdamer Café. Als sie gerade bestellen wollten, sah er auf dem Display die Vorwahl von Schweden. „Meine Frau und ich lächelten uns an. Sie sagte ironisch: ‚Da kommt der Anruf‘ – als Witz.“ Aber dann war es wirklich DER Anruf. „Der Anruf selbst war natürlich absolut wunderwunderschön. Es war ein unglaublicher Moment, weil man es als Naturwissenschaftler:in irgendwo in seinem Kopf drin hat, dass man es vielleicht mal schafft: etwas so Wichtiges zu machen, etwas so Tolles und Aufregendes zu entdecken, das einen nach Stockholm bringt.“ List erzählt, dass man genau eine Dreiviertelstunde vor der offiziellen Pressekonferenz aus Stockholm angerufen wird, damit man noch „etwas Zeit hat, sich für das neue Leben zu wappnen“. Die Sidestory, dass ihn das Komitee aber 15 Minuten später noch einmal anrief, um die Nummer von David MacMillan zu erfragen, amüsiert ihn noch heute. Er schrieb MacMillan, dass er wohl ebenfalls über den Nobelpreis informiert werden sollte, per SMS. „Wake up, Dave!“ Noch mehr amüsiert ihn, dass dieser zunächst vermutete, es handele sich um einen Streich seiner Studierenden. Sie einigten sich per SMS auf eine Wette: 1.000 Dollar. In Stockholm lösten sie die Wette später ein – und List spendete seinen Wett-Gewinn direkt in MacMillans Foundation für unterprivilegierte schottische Kinder und Jugendliche.

Seit fast 20 Jahren ist Benjamin List als Honorarprofessor an der Uni Köln tätig und sagt, dass er hier „seine akademische Heimat“ gefunden hat. „Das ist überhaupt die schönste Frucht, wenn man ein bisschen fortgeschrittener in der Karriere ist: Langfristige Verbundenheit, Freundschaften, die sich entwickeln – zu Kolleg:innen in der ganzen Welt und eben insbesondere auch in Köln. Wir haben in Köln diese tolle Organokatalyse-Vorlesung über viele Jahre mit den Studierenden – und ich schätze auch die fruchtbare Interaktion sehr.“ Beide erwähnen auch die durchaus „stimulierenden Angriffe“ innerhalb des Kölner Departments für Chemie, z.B. im Kontext von Disputationen. „Die Kölner Kolleg:innen sind smart und sehen natürlich auch, wenn es mal Schwächen gibt und weisen uns darauf hin. Das kann manchmal ein bisschen weh tun, aber eben auf eine gute Art. Das stimuliert einen, daran zu arbeiten und diese Sachen, die wir jetzt noch nicht können oder wissen, zu lösen“, sagt List und lacht. Schmalz räumt ein, dass manchmal auch mit einer „gewissen Schärfe“ argumentiert wird, aber letztlich ist es „doch tatsächlich ein ganz wichtiger Wert, wenn man Kolleg:innen hat, die einen auch mal kritisieren. Es ist eine Frage der akademischen Freundschaft, dass man sich nicht scheut, kritische Fragen zu stellen.“

Zwischen den beiden ist eine sehr lebendige, wertschätzende, ja freundschaftliche Stimmung zu spüren, die auch bei Veranstaltungen des Departments Chemie zwischen Studierenden, Promovierenden, Lehrenden und auch Absolvent:innen auffällt. Bei der Verabschiedung von Professor Schmalz gab es eine rege Beteiligung – auch seitens Alumni mit eigenen Beiträgen. Wie ist es Professor Schmalz gelungen, die Grundlagen für eine solche Atmosphäre der Verbundenheit zu schaffen? Nach kurzer Überlegung resümiert er: „Dinge wachsen. Für mich war es immer wichtig, Zeit für die Studierenden zu haben. Natürlich sind Doktorand:innen die Schlüsselgruppe, mit der wir viel zu tun haben. Aber die Menschen in allen Entwicklungsstufen ernst nehmen, mit gutem Beispiel vorangehen, Dinge nicht verkrampft rüberkommen lassen – war immer so eine gewisse Philosophie.“ Für Schmalz ist vor allem die Mentalität von Bedeutung, mit der man sich im Labor, Hörsaal und am Department begegnet – eine gesunde Mischung aus Fordern und Fördern, aus der im Laufe der Zeit ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden ist. „Einerseits war da schon immer das Bewusstsein bei den jungen Leuten: Hier wird was verlangt – hier musst du was können und hart arbeiten. Auf der anderen Seite waren immer alle begeistert über die Atmosphäre. Wir waren ein tolles Team, hatten tolle interne und externe Kolleg:innen und eine sehr inspirierende Zusammenarbeit – auch mit dem MPI. Es war uns auch immer ein Anliegen, dass wir Individuen hervorbringen, die stolz sind, bei uns durch die Schule gegangen zu sein. Dann kommen natürlich auch die Alumni gerne zu Veranstaltungen und freuen sich, mal wieder Uni-Luft schnuppern zu dürfen. Irgendwie ist das ein bisschen wie ein Familiengefühl.“

Foto: Thomas Arntz | KölnAlumni

Abschließend möchte Professor Schmalz von Benjamin List wissen, wo er die Zukunft der Chemie sieht und in welche Bereiche die UzK bei der Ausbildung investieren sollte, damit unsere Studierenden die großen Herausforderungen der Zukunft meistern können. List zeigt sich offen für biologische Anwendungen der Chemie – weist aber auch auf den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Chemie hin, die seines Erachtens künftig eine große Rolle spielen wird. „Ich denke, es muss nicht immer Organokatalyse sein. Aber dennoch muss ich Folgendes sagen: Die Chemische Synthese als zentrale Disziplin fällt manchmal ein bisschen hinten runter – ihr wird mit Skepsis begegnet und sie hat insbesondere in der Nichtchemiker-Welt häufig sowas Unappetitliches: So ein bisschen Igittigitt! Aber das ist wirklich ein maximales Missverhältnis von Relevanz für unser bequemes Leben auf dieser Erde auf der einen – und dem Ansehen der Chemischen Synthese auf der anderen Seite. In Vitaminen, in Medikamenten und in anderen Wirkstoffen, die unser Leben überhaupt erst sichern, ist immer chemische Synthese drin. Auch die Impfstoffe, die in der Pandemie unser Leben gerettet haben, wären ohne chemische Synthese nicht möglich. Wir brauchen sie für unser Leben. Am Ende muss irgendjemand Moleküle herstellen – dafür braucht man gut ausgebildete Chemiker:innen.“

List sieht darüber hinaus eine dringende Notwendigkeit der Durchführung der Chemischen Synthese vor Ort, auch weil im Hinblick auf Lieferketten-Problematiken bereits Abhängigkeiten bestehen. „Schauen Sie auf den Pharmabereich, der großteils nach Indien und China ausgelagert wurde. Was das bewirkt, sehen wir dann, wenn es plötzlich zu Krisensituationen kommt. Auf einmal gibt es keine Medikamente mehr, keine Krebsmedikamente zum Beispiel. Ich glaube, dass das auch in den nächsten Jahrzehnten, vielleicht sogar im nächsten Jahrhundert, so weitergehen wird. Das bedeutet, dass man Menschen braucht, die chemische Synthese beherrschen.“ Auch angesichts der knapper werdenden Rohstoffe, die in der Chemie zum Einsatz kommen (darunter Erdöl, Erdgas und Kohle), misst List der Ausbildung von Synthetiker:innen und präparativen Chemiker:innen eine bedeutende Rolle in der Zukunft bei. „Dafür breche ich eine Lanze – und ich denke, dass das auch in Köln so gesehen wird.“

Nach einer Stunde neigt sich das Treffen im Büro von List dem Ende entgegen. Benjamin List ist zum Abschied nochmals wichtig, die gute Arbeits- und Lernatmosphäre in Köln und den großen Anteil, den Hans-Günter Schmalz daran trägt, zu betonen: „Wenn jemand über sich hinausdenkt, über sich selbst, sein eigenes Machtimperium, seinen Arbeitskreis – wenn man Dinge mit Freude und Begeisterung macht und sich wirklich für die Menschen interessiert – und für die Institution, an der man tätig ist: Das ist grundlegend wichtig, damit das Gesamtgefüge für Studierende, Promovierende und Lehrende gut funktionieren kann.“

Über diese Anerkennung freut sich Hans-Günter Schmalz sichtlich, spielt das Lob für den guten Teamspirit am Institut aber auch direkt wieder zurück: „Wie sagte einer bei Ice Age? Wir sind schon eine krasse Herde.“

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Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Benjamin List hat das Gebiet der asymmetrischen Organokatalyse mitbegründet – ein Verfahren, mit dem sich Moleküle synthetisieren lassen. Für seine Entdeckung wurde er zusammen mit dem Schotten     MacMillan mit dem Nobelpreis für Chemie 2021 geehrt. Nach dem Studium in Berlin, der Promotion in Frankfurt und einem Forschungsaufenthalt in den USA kam er 2003 an das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. Dort ist er geblieben – und seit 2005 Direktor. Seit 2004 ist er Honorarprofessor am Department für Chemie an der Uni Köln und wurde im November 2022 von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet – und zudem vom Rektor zum KölnAlumni-Ehrenmitglied ernannt.

Prof. Dr. Hans-Günther Schmalz war von 1999 bis 2023 Lehrstuhlinhaber für Organische Chemie an der Universität zu Köln. Sein Chemie-Studium und die Promotion absolvierte er in Frankfurt am Main. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Princeton University in New Jersey wurde er 1993 in Frankfurt habilitiert. 1994 erfolgte der Ruf für eine Professur für Organische Chemie an die Technische Universität Berlin, wo er bis 1999 blieb. Von 2008 bis 2011 war er Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät und von 2013 bis 2017 Direktor des Departments für Chemie der Universität zu Köln. 2023 wurde er emeritiert – setzt sich aber nach wie vor sehr für die Belange seines Instituts ein.