Should I stay or should I go?
Zehn Fragen, drei Personen und eine Stunde Zeit: WiSo-Alumna Veronika Seitler-Käfer, Phil-Alumna Dr. Johanna Dahm und WiSo-Alumnus Uwe Link trafen sich an der Uni Köln, um darüber zu diskutieren, warum ein Neustart im Leben eben nicht so einfach ist, wie das Ausführen eines Neustarts in Windows. Anhand von zehn Fragen, gezogen aus einem Lostopf, näherten sie sich dem Thema aus ihren jeweiligen Perspektiven an. Entstanden ist ein Gespräch darüber, wie wir den Sprung über den eigenen Schatten bewältigen können und unseren Weg auch an den Kreuzungen und Weggabelungen des Lebens gezielt weitergehen.
Frage 1: Should I stay or should I go?
Johanna Dahm (JD): Direkt zum Start so eine herausfordernde Frage! Ich fange einfach mal an: Mit 19 Jahren bin ich von zu Hause losgegangen – da war ich auf jeden Fall froh, losgegangen zu sein!
Uwe Link (UL): Mein Bauchgefühl sagt intuitiv: Where should I stay and where should I go? Muss man sich das nicht zuerst fragen? Ich glaube, viele Menschen sind sich nicht über ihre eigenen Ziele im Klaren. Dann kann es leider schnell passieren, dass man einen Job wechselt, nur weil man denkt: „Jetzt muss ich wechseln – es ist höchste Zeit!“ Manche Menschen sind entweder extrem von äußeren Normen getrieben oder selbst mit irgendwas unzufrieden. Aber zeige ich denn wirklich mehr Initiative, wenn ich gehe? Kommt damit mehr Dynamik in mein Leben?
Veronika Seitler-Käfer (VSK): Genau. Wo will ich überhaupt hin in meinem Leben? Was ist mir wichtig? Das ist auch mit 19 schon keine unwichtige Frage. Ich habe auch in meiner Arbeit hier an der Uni Köln festgestellt, einige Studierende haben keine Lebensziele und wissen nicht, was will ich eigentlich vom Leben?
JD Das ist auch meine Wahrnehmung. Viele Menschen, ganz unabhängig vom Alter, sind noch gar nicht richtig gestartet und denken trotzdem schon, dass sie nicht richtig sind, wo sie gerade sind. Sie schauen nur, wo ist das Gras grüner oder die Karotte größer – aber ist das der richtige Antrieb? Die wichtige Frage ist hier doch: Habe ich denn eigentlich eigene Ziele, die ich erreichen möchte oder werden mir nur Ziele und Anreizsysteme von außen gesetzt, denen ich folge? Starte ich nur für mehr Geld oder für die bessere Arbeitsumgebung in einen neuen Job? Ich glaube, wenn man nur für andere Ziele etwas tut, dann ist man umso schneller wieder weg und alles geht von vorne los.
VSK Ich stimme euch total zu. Es bedarf einer grundlegenden Analyse seiner selbst und seiner Werte und man braucht Qualitätskriterien, nach denen man beurteilen kann, ob ich besser bleiben oder gehen soll. Allerdings finde ich persönlich Stagnation schlimmer, als eine Zeit lang auch mal in eine falsche Richtung zu gehen. Lieber vorübergehend falsch abbiegen, als im Status quo zu verharren und dabei nicht glücklich zu sein.
UL Das kommt für mich aber auf die genauen Umstände an. Momentan ist in unserer Gesellschaft oft so ein gewisser „Drive“ vorhanden, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Menschen sind durch Social Media per se getrieben: Wenn ich nicht in einem Jahr den Job wechsele, dann verpasse ich was oder dann mache ich irgendwas falsch. Vielleicht ist genau dann aber eine Phase der Stagnation, die ich nutze, um mir Gedanken zu machen, sinnvoller, als einfach kopflos was anderes zu machen.
JD Einigen wir uns trotzdem darauf, dass es grundlegend besser ist zu gehen als zu bleiben und unter der Situation zu leiden?
VSK Ja, finde ich. Weiter geht´s mit Frage 2…
Frage 2: Bestenfalls in einem Wort: Was ist die größte Herausforderung bei einem Neustart?
UL Machen.
JD Der erste Schritt.
VSK In die Handlung kommen.
JD Perfektionismus. Angst. Dein innerer Kritiker.
VSK Das ist ja direkt eine ganze Liste. Ich glaube, am Ende des Tages geht es wirklich um das Tun. Nächste Frage!
Frage 3: Warum macht ein Neustart im Job, im Privatleben, in der Beziehung vielen Menschen eher Angst als Freude?
VSK Spannende Frage, ich fange mal an. Ich glaube, das hat mit der Psychologie des Menschen zu tun. Ein Neustart wird wegen der damit verbundenen Ungewissheit oft nicht als etwas Schönes, sondern als eine Hürde der Angst empfunden. Wenn man die Modelle des Change-Managements betrachtet, erkennt man, dass es unterschiedliche Phasen gibt, auf die man sich einlassen sollte – aus Angst kann Hoffnung oder Freude werden, etwas geschafft zu haben. Spencer Johnson schreibt in seinem Buch „Who moved my Cheese“: Ich weiß, es könnte zwar einen besseren Käse geben als meinen, aber ich habe ihn täglich und behalte ihn lieber, da ich den besseren vielleicht doch nicht finden würde. Menschen mögen einfach keine Veränderung per se.
UL „Losses loom larger than gains“ ist ein Grundsatz von Daniel Kahneman, den ich in diesem Kontext unterstreichen würde.Menschen haben von Natur aus eine Abneigung gegenüber Verlusten und tendieren dazu, diese zu vermeiden. Jemand, der den Sprung ins Unbekannte oder einen kompletten Neustart wagt, wird dafür bewundert. Ich glaube, das sind häufig Personen mit einer guten Selbstreflexion, die ihre Ängste nicht ignorieren oder abschalten, sondern sie unter Kontrolle haben. Die Angst kann ein Antreiber sein und kann durchaus in gewissen Situationen helfen. Sie zu beherrschen, muss aber gelernt sein und das geht auch nicht von heute auf morgen.
JD Ich finde eure Positionen total spannend. Der Mensch wird ja zu einer trägen Masse, je älter er wird. Am Anfang haben wir noch gar nicht viel Angst, sondern sind auf einer ständigen Entdeckungsreise. Wir fallen hin und gehen weiter, wir stürzen vom Fahrrad und steigen wieder auf, wir haben neue Freund:innen, wir probieren uns aus usw. Je mehr wir aber auf der Habenseite verbuchen, desto weniger wollen wir das Erreichte riskieren – man sieht dann eher die Schattenseiten, weil man auch mehr Verbindlichkeiten hat.
VSK Wobei ich nicht glaube, dass es eine Frage des Alters ist, sondern eher der Persönlichkeit. Es gibt Menschen, die gerne die Sicherheitskarte spielen und dann gibt es die agilen, die bis ins hohe Alter immer etwas Neues beginnen. Für sie ist Glück eine Eigenleistung.
UL Als HR‘ler in einem globalen, komplexen Großkonzern muss man total flexibel sein. Ich erlebe im Kontrast zu meinem Job gerade den persönlichen Neustart mit meiner kleinen Tochter, die gerade viel ausprobiert, aber immer auch ihren festen Anker, ihre stabile Umgebung braucht. Wie passt das zusammen – das, was wir einem jungen Lebewesen geben und diese immer schneller werdenden, volatilen Anforderungen, die sie im Erwachsenenleben erwarten?
VSK Im Kleinkindalter ist so ein Anker überlebenswichtig – das wandelt sich im Laufe des Lebens. Aber auch als Erwachsene trauen wir uns Dinge oft nicht, weil wir unsere Entscheidungen absichern wollen. Mit einem festen Anker, oder ich nenne es Netzwerk, traue ich mir persönlich sehr viel mehr zu.
JD Also ich fasse zusammen: Wir zögern beim Neustart vor allem, weil wir Angst haben. Angst vor Informationsverlust und davor, dass uns noch eine bessere Option verloren geht. Es hilft zu wissen, was im Leben Halt und Stabilität gibt. Auf zur nächsten Frage!
Frage 4: Wenn gar nichts mehr geht: Wie wird ein Neustart erfolgreich?
JD Erstens, erinnere dich an die eigenen Erfolge, die du schon im Leben hattest. Dazu zählen auch kleine Dinge, die nicht zu unterschätzen sind. Zweitens, suche dir eine:n Mentor:in oder Coach. Das muss kein bezahlter Mensch sein, die Welt ist voller erfahrener Menschen und da wir so vernetzt sind, findest du sie überall. Drittens, stelle Fragen!
VSK Da bin ich ganz bei dir. Wir leben in einem sehr defizitorientierten Bildungssystem, was dazu führt, dass Menschen ihre Stärken weniger kennen. Ich glaube, um die eigenen Ressourcen wirklich als Pfründe zu sehen, brauche ich einen Bewusstseinswechsel von der Defizitorientierung hin zu einer Stärkenorientierung. Anderen Menschen mitzuteilen, worin sie gut sind, wofür und worauf sie stolz sein können, gibt so eine Energie. Auch da sind wir wieder beim Anker.
UL In einer Situation, in der ein Neustart hermuss, befinde ich mich eigentlich direkt im „Auge des Hurrikans“. Die Entscheidung wurde an sich bereits getroffen, es ist nicht mehr windig, sondern ruhig – jetzt kann gestaltet werden. Der Begriff Mindset ist zwar abgedroschen, aber hier würde ich tatsächlich positiv nach vorne blicken. Mir würde das Kraft geben an der Stelle, denn es kann nur besser werden!
JD Es gibt auch immer Situationen im Leben, die können nicht kontrolliert werden. Ich musste meinen Konzern verlassen, weil meine Mutter pflegebedürftig wurde. Ich saß nach zehn Berufsjahren im Ausland plötzlich wieder in Deutschland – ohne Netzwerk und hatte gar nichts. Da war ich zum Neustart gezwungen. Wie du sagst, war ich in dem Moment ganz ruhig und überlegte nur, wie geht es nun weiter? Was ist jetzt wichtig? Prioritäten zu setzen, hat mir in diesem Moment sehr geholfen.
VSK Darüber hinaus ist es auch bei diesem Thema wichtig, seine eigenen Standards zu kennen. Ist es für mich wichtiger, meine Mutter gepflegt zu haben oder dem Konzern treu geblieben zu sein? Wenn in einer Lebenslage gar nichts mehr geht, würde ich grundsätzlich auch fragen, was gibt mir Energie? Wenn ich Energie für Neugestaltung brauche, ist eine positive Grundhaltung wichtig. Wenn man in der negativen Denke stecken bleibt, wird alles, vor allem die Herausforderungen des Lebens, noch schwerer. Die Devise in solchen Situationen lautet: Schritt für Schritt.
JD Ja, die Philosophie der kleinen Schritte – ein Schritt nach dem anderen. Und hilfreich ist in einer solchen Situation auch oft die Frage: Was kann schlimmstenfalls passieren? Wie tief kann man in einem Sozialstaat wie unserem fallen? Wenn man arbeitslos wird, erhält man zum Glück Unterstützung und Hilfe bei der Jobsuche – das muss man auch mal sehen.
Frage 5: Change-Management: Ist Glück machbar?
UL Das ist eine Frage, die sich wirklich schwer beantworten lässt. Glück ist ja etwas sehr Persönliches, man muss sich dafür selbst gut kennen und ehrlich mit sich in den Austausch gehen.
VSK Schwer, aber gut! Die Glücksforschung ist sich über zwei Aspekte in dieser Frage einig: Glück ist zum einen, wie du sagst, immer subjektiv. Jeder hat seinen eigenen Moment des Glücks. Ein Marathonlauf zum Beispiel ist keine 42 Kilometer lang „pure Freude“, dennoch ist es ein Glücksmoment, es geschafft zu haben. Dieser „Moment der Freude“ ist die kurzfristige Dimension. Zum anderen können wir einer Sache auch langfristig eine Bedeutung beimessen: Das Erreichen des Erstrebten (für einen Marathon wird ja lange trainiert) stellt uns dann langfristig zufrieden.
JD Hier sitzt eine Glücks-Gegnerin.
VSK Wieso, glaubst du nicht an Glück?
JD Glück ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die wir bewerten, denen wir eine positive Wertschätzung geben, aber die wir auch aktiv beeinflussen. Deswegen ist Glück eine ganz individuelle, persönliche Sache. Von außen betrachtet sieht z.B. Erfolg oft nach Glück aus. Ein Beispiel: Nichts ist mir zugeflogen, ich musste immer für mich selber kämpfen und private Hürden meistern. Wer dann sagt, „du bist so eine taffe Frau geworden – du hattest so viel Glück“, dem kann ich nur entgegnen: Das hatte nichts mit Glück zu tun, ich habe es mir erarbeitet. Das meinte ich.
VSK Die Daten und Fakten von der Harvard University – die aufschlüsseln, wie Glück zustande kommt – stimmen dir zu: Es kommt natürlich nicht nur darauf an, dass du von außen glücklich wirkst, sondern dass du dich innerlich glücklich fühlst. Es ist eine Kunst zu erkennen, wie Glück tatsächlich entstehen kann, es ist eine Eigenleistung, ein Samen, der in dir ist. Du kannst ihn hegen, pflegen, der kann größer werden und gibt dir dann auch Energie. Kleinigkeiten wie z.B. ein Schokokeks auf dem Teller oder eine Blume, die dir am Wegesrand begegnet, können einen Glücksmoment für dich persönlich bedeuten.
UL Dann sind wir doch wieder beim ersten Schritt für einen Neustart: Ich muss mich zuerst mit mir selbst auseinandersetzen. Was sind die Momente, die mir Glück geben? Was will ich dafür verändern, aufgeben oder hinzunehmen? Ich finde es interessant, dass man ja oft dazu neigt, Erfolg gleich als Glück zu empfinden. Bei dem Thema denke ich auch an „Erwartungen“. Oft hat man einfach zu hohe Erwartungen und das kann dazu führen, auch entsprechend häufig enttäuscht zu werden. Ganz plakativ: Meine schönsten Kinobesuche waren oft die Filme, in die ich ohne Erwartungen gegangen bin. Wir sollten unser eigenes Erwartungsmanagement viel besser steuern.
JD Erinnert ihr euch noch an die Zoom-Konferenzen in der Corona-Zeit? Damals habe ich immer eine schöne Blume neben mich auf den Schreibtisch gestellt, so dass sie in meinem Video-Ausschnitt zu sehen war. Dann merkte ich, dass die Leute, mit denen ich öfter gezoomt hatte, auch eine Pflanze oder etwas anderes im Video-Ausschnitt hatten – das hat mich so gefreut. Das Gute, alles was den Alltag verschönert, kann ich übernehmen und es mir mit einfachen Mitteln schöner machen.
VSK Also Glück ist machbar, Leute.
JD Ja, stimmt. Glück ist machbar!
VSK Es gibt ein Blümchen am Computer und einen Schokoladenkeks auf dem Teller – dann ist doch alles perfekt. Prima, weiter zur nächsten Frage.
Frage 6: Eine kurze Antwort – was ist Glück für dich?
UL Ich kann alleine einen Berg hochwandern und bin total glückselig. Ich bin aber auch gerne in der Menschenmenge – egal ob das mit Freund:innen auf einer Party ist oder im Büro. Mein Glück bekomme ich durch das Netzwerk und durch den Austausch mit anderen Leuten um mich herum.
VSK Das Zelebrieren von Kleinigkeiten verschafft mir Dankbarkeit oder auch ein schöner Moment mit Freund:innen und Familie. Gut vernetzt zu sein, macht mich total glücklich.
UL Da habe ich ergänzend noch ein total romantisches Plüsch-Beispiel: Wenn meine Tochter morgens aufwacht, ist sie einfach glücklich, wieder wach zu sein. Ich bin ohnehin schon ein positiver Mensch, aber das versuche ich mir von ihr abzuschauen.
JD Kennt ihr diesen Moment, wenn ihr eine Party gefeiert habt oder die Familie da war und sie sind alle weg – aber es ist, als wären sie noch im Raum? Wenn meine Gäste durch die Tür sind, setz ich mich hin und spür sie noch mal nach. Diese Verbundenheit über die eigentliche Begegnung hinaus, ist für mich Glück.
Frage 7: Glück im Alltag. Wie kann das gelingen?
VSK Die erste Stunde des Tages starte ich mit einem großen Bewusstsein, sie riecht nach Kaffee und ist ein Moment der Ruhe, vielleicht mit schöner Musik. Ich stehe lieber eine Stunde früher auf, um diese Zeit für mich zu haben. Morgens und abends vorm Schlafengehen lasse ich nur Gutes an mich heran.
JD Wir beide haben ähnliche Tagesabläufe, ohne uns abgesprochen zu haben. Ich bin chronische Frühaufsteherin und morgens gibt es auch einen Kaffee – dabei höre ich einen guten Comedy Podcast: So starte ich mit ganz vielen guten Endorphinen in den Tag. Dann geht es raus in die Natur und ich laufe, egal ob Regen, Sonnenschein, Schnee. Wenn ich das nicht habe, bin ich nicht in der Balance. Das ist für mich Glück im Alltag.
UL Was ihr beschreibt, sind ja eure Morgenroutinen.
VSK Keine Raketenwissenschaft. (Alle lachen)
JD Machbar.
UL Ich bin kein Early Bird. Ich bin immer dann glücklich, wenn ich eine Aufgabe, auf die ich nicht viel Lust habe, direkt zu Beginn des Tages angehe und schaffe.
VSK Eat that frog!
UL Ja, das gibt mir dann Energie für den Rest des Tages.
VSK Hast Du etwas Persönliches, was dich glücklich macht im Alltag?
UL Für mich ist Sport der absolute Ausgleich und dabei entsteht Glück. Ich wäre absolut unleidlich, wenn ich eine Woche keinen Sport mache. Ich muss mich auspowern, am besten mit meinen Kumpels. Wie seht ihr das Thema Ausgleich?
JD Ich habe drei Säulen: Bewegung, Ernährung, gute Gespräche. Soll auch gegen Alzheimer helfen.
VSK Bei mir ist Bewegung auch auf jeden Fall dabei. Ich mache Kickboxen seit geraumer Zeit.
Frage 8: Krise oder Glück: Was gehört eher zu einem guten Neustart?
VSK Eine Motivation, die mir Kraft gibt, kann für mich durchaus aus einer Krise kommen. Wenn ich mich dann überwinde und aktiv werde, kommen Glücksgefühle auf. Diese Glücksgefühle brauche ich wiederum, um die Energie zu generieren, mit der ich vielleicht einen Neustart bewältigen kann.
JD Die Frage ist dann doch aber eher, was generiert die Energie, um in den Neustart zu kommen? Die Krise oder das Glück?
UL Push- oder Pull-Factor? Der Push-Faktor „Du musst dich irgendwie verändern“ ist da und leitet uns durch die Change-Kurve. Die Menschen sehen mittlerweile mehr Gestaltungsmöglichkeiten, auch bei den Biografien. Heutzutage sind wir ein Stück weit proaktiver unterwegs und es ist wesentlich anerkannter und üblich, auch im höheren Alter, noch mal an anderer Stelle neu zu starten.
JD Wir befinden uns derzeit ja auch in einer globalen Krise, in einer Klimakrise und wir sind als Gesellschaft auch durchaus sozial und wirtschaftlich in der Krise. Wir tun uns aber überraschend schwer mit dem Neustart, obwohl wir wissen, wir kommen nicht mehr an ihm vorbei. Warum ist das so?
VSK Ich glaube, Veränderung können wir nur zustande bringen, wenn wir in einer gewissen komfortablen Situation sind. Wenn wir selbst am Limit sind, dann können wir nicht auch noch die Welt retten.
JD Wobei auch ungeahnt Kräfte mobilisiert werden können, wenn man am Ende ist. Ich glaube aber, wir sind eigentlich noch gar nicht am Limit.
UL Der Fokus des Einzelnen ist wahrscheinlich entscheidend. Was will und kann ich persönlich jetzt verändern? Viele Menschen denken, ja ok, Veränderungen sind dringend notwendig, aber bitte „not in my backyard“. Hier würde es doch helfen, eher eine proaktive gestalterische Rolle einzunehmen.
JD Neustart klingt ja etwas bedrohlich, im Grunde ist aber jeder Tag ein Neustart. „Wir machen es heute mal anders“ klingt doch gleich viel weniger bedrohlich, oder?
UL Ja, genau! In der Praxis, bei Transformationsprozessen, beobachten wir auch häufig, dass manchmal sogar sehr erfolgreiches Personal verlernt hat, eigene Stärken zu erkennen, Erfolge zu reflektieren und auf sich selber stolz zu sein. Sie erkennen gar nicht erst, was sie wie verändern können.
JD Und, wir haben es vorhin schon gesagt: Wir brauchen Mentor:innen. Ich habe mal in einem Konzern ein Change-Programm auf die Beine gestellt. Zu der Zeit ging es wirklich um massive Veränderungen. Das Programm „Change Angels“ inkludierte alle Mitarbeiter:innen und kommunizierte durch alle Abteilungen des Konzerns. Der Neustart hat auch genau deshalb gut funktioniert.
VSK Ja, da sind wir wieder beim sozialen Anker, Netzwerk und Gemeinschaftlichen. Viele Menschen sind an ihrem Limit, weil sie diverse Lebenssituationen allein bewältigen müssen. Daher sollte nicht abverlangt werden, noch mehr zu leisten. Es prallen so viele und teils unrealistische Erwartungen auf die Menschen ein. Alles alleine zu schaffen, ist schwer. Ein gutes, unterstützendes Netzwerk kann einem dabei den notwendigen Halt geben.
JD In einem funktionierenden Netzwerk spielen Ehrlichkeit, Respekt, Anerkennung und Wertschätzung eine große Rolle. Sich nicht zu betrügen, an einem Strang zu ziehen, einander offen in die Augen zu schauen. Diese Werte muss man auch leben und das auch im Berufsleben.
VSK Genau! Unternehmen sollten laut der Glücksforschung der Harvard University Menschen nicht weiter „ausquetschen“ und noch mehr von ihnen verlangen, ohne im Gegenzug sicherzustellen, dass sie sich im Job wohlfühlen. Wichtig ist ein funktionierendes System, in dem Wertschätzung ausgedrückt wird und die Benefits sich nicht auf eine Kaffee-Flat oder einen Parkplatz beschränken, sondern Respekt, Kultur, gemeinsame Werte und ein lebendiges Netzwerk gelebt werden.
UL Ergänzend zum Netzwerk bin ich da auch wieder beim Thema Fokussierung: Gerade im beruflichen Kontext versuchen wir in Stressphasen oft, alles noch zu schaffen und die einzelnen Aufgaben irgendwie zusammenzuhalten. Dann kann es vorkommen, dass sich die Welle sehr hoch türmt. Dieser Moment, der sich für uns dann oft am schlimmsten anfühlt, ist eigentlich der Beste, da wir merken: Jetzt mal full stop! Das funktioniert so nicht mehr, ich mache einen Schritt zurück und frage mich, wo ich nun meine Prioritäten setze.
JD Also im Moment der Krise einen Schritt zurücktreten, die Prioritäten klären, den Fokus auf das Wichtigste legen und die Frage stellen „Was kann schlimmstenfalls passieren?“
VSK Ja, das ist alles richtig. Und trotzdem komme ich auch noch mal auf die Bedingungen zurück, die einen Wohlfühlmoment erzeugen und auch eine Aufforderung an einen selbst sind, für sich zu sorgen. Da sind wir wieder bei der Eigenleistung, die gehört ebenfalls dazu.
JD Positive Selbstführung. Ja, ich bin voll bei dir. In diesem Zusammenhang gefällt mir das Logo von KölnAlumni übrigens auch gut. Es ist zwar ein Kreis, aber mit Ecken und den verschiedenen Fakultätsfarben. Was ich meine – jeder hat ja einen anderen persönlichen Wohlfühlmoment. Wir sollten deshalb viel mehr gemeinsam das genießen, was jedem guttut.
Frage 9: The pursuit of happiness: Andere Länder – anderer Umgang mit Neuanfängen?
JD Amerika ist, glaube ich, ein Klassiker.
UL Ja, vom Tellerwäscher zum Millionär.
JD Ich war tatsächlich mal mit einem Amerikaner verheiratet. Damals verging eigentlich kein Tag oder Familienfest, bei dem die Verwandtschaft nicht etwas Neues angefangen hätte. Wer angestellt war, hatte trotzdem noch eine Selbstständigkeit. Wer mal selbstständig war, ist wieder irgendwo in das Angestelltenverhältnis gegangen. Ich habe in den USA niemanden getroffen, der dort in Rente gegangen ist, wo er ursprünglich ausgebildet wurde. Bei den Amerikaner:innen ist Neustart einfach Alltag.
UL Würde ich aus meinem Kontext auch so beschreiben. Einen Feld- oder Unternehmenswechsel würde man sich bei uns sehr gut überlegen. Dort fragt aber keiner nach – selbst krasse Wechsel zwischen verschiedenen Bereichen wie HR hin zu Vertrieb sind völlig normal, dadurch ist es viel fluider.
VSK Ich habe für drei Jahre in Spanien gelebt und den dortigen „pursuit of happiness“ erlebt. Der „Leistungsgedanke“, also immer viel zu arbeiten und das volle Konto im Blick zu haben, ist dort einfach nicht immer im Fokus. Stattdessen haben sie – und zwar auch in jeder Krise – ihre „Happiness“ im Blick behalten und jeden Freitag gab es eine Party, zu der jeder etwas mitgebracht hat. Das lässt man sich nicht nehmen – die Welt drumherum gibt es in dem Moment gar nicht.
Frage 10: Was war dein letzter Neustart – im Großen wie im Kleinen?
UL Ich bin gerade komplett im Elternzeit-Fokus. Durch die Geburt meiner Tochter wurde alles neu gewürfelt, wirklich alles. Nicht nur das Verhältnis zwischen mir und meiner Tochter ist neu – auch das Leben mit meiner Frau, der Kontakt zu Freund:innen und auch das Berufsleben haben sich geändert. Und abgesehen davon, auch wenn es lange her ist: Mein Auslandssemester in Kopenhagen war für meinen Lebensweg wie eine Trägerrakete. Damals bin ich mit einem Koffer losgefahren, hatte keine Wohnung, kannte niemanden und bin bei null gestartet. Das war eine Art gewollter Neustart, der mich geboostet hat.
VSK Du hast mich mit deiner Kopenhagen-Antwort inspiriert, einen Neustart zu nennen, der für mich auch eine ganze Zeit zurückliegt. Nach Köln zu kommen, war für mich nämlich auch so ein Raketenstart. Ich komme aus Süddeutschland und hatte den Wunsch, dort wegzugehen. Ich wollte unbedingt in eine „Wow-Stadt“ wie Köln ziehen. Als ich dann zum Studium hierherkam, hatte ich genau eine Woche Zeit, um einen Job und eine Wohnung zu finden und meine Eltern von meinem Weg zu überzeugen. Es ist mir alles gelungen in dieser einen Woche. Mein Mindset in Köln war: Die Welt gehört mir.
JD Erst vor kurzem hatte ich tatsächlich einen Neustart, der lange vorbereitet wurde und mich auch auf lange Sicht begleiten wird: Mit dem Bundesverband für Künstliche Intelligenz wird es ein Projekt geben, dass sich so richtig wie ein Neustart anfühlt.
VSK Ja, dann viel Glück dabei.
UL Halte uns auf dem Laufenden.
JD Werde ich! Ich wollte sowieso fragen, ob wir diese Runde nicht irgendwie weiterführen wollen. Ich würde sehr gerne mit euch in Kontakt bleiben. (Alle bejahen und freuen sich.)
UL Das war toll. Vielen Dank euch – und an KölnAlumni!
Dr. Johanna Dahm wurde 2002 an der Philosophischen Fakultät im Bereich Kultur- und Kommunikationswissenschaften promoviert. Nach ihrem Studium war sie in verschiedenen internationalen Konzernen tätig. Heute ist Johanna Dahm Autorin, Speakerin und Inhaberin der Dahm International Consulting – Unternehmensberatung für Entscheidung | Entwicklung | Veränderung.
Veronika Seitler-Käfer ist Alumna der WiSo-Fakultät (BWL). Sie hat nach ihrem Studium in Köln und England als Dozentin an einer Akademie für Kommunikation gearbeitet und eine Ausbildung als Trainerin angeschlossen (Schwerpunkte: Selbstmanagement und Selbstmarketing). Auch an der Uni Köln führt sie Management-Trainings durch.
Uwe Link studierte Soziologie an der WiSo-Fakultät der Uni Köln. Während seines Studiums war er unter anderem Geschäftsführer bei der OSCAR GmbH, einer der erfolgreichsten studentischen Unternehmensberatungen mit dem Hauptsitz in Köln. Uwe Link ist seit 2015 Vice President - Teamleitung regionale HR Business Partner Deutsche Bank.