Alumni im Interview: Dr. Lennart Schürmann
Dr. Lennart Schürmann erforscht politische Protestformen. Zuletzt hat er die Demonstrationen an der amerikanischen Eliteuniversität Harvard hautnah miterlebt. Im Interview beschreibt der Alumnus der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, welche Art von Protest einer Demokratie nützt und welche sie untergräbt.
- Das Gespräch führte Eva Schissler -
Herr Dr. Schürmann, Sie sind diesen Sommer von einem Postdoc-Aufenthalt an der Harvard-Universität nach Deutschland zurückgekehrt. Hatte Ihre Rückkehr auch mit der politischen Situation dort zu tun?
Ich bin eine Woche vor Trumps Amtseinführung in den USA angekommen. In der Anfangszeit hatte ich noch Lust, länger zu bleiben. Harvard ist sehr inspirierend und beeindruckend. Allein schon die Gebäude, aber mehr noch die offene Mentalität der Menschen. Auch die berühmtesten Professor*innen, die ganze Forschungsfelder geprägt haben, treffen sich einfach auf einen Kaffee mit dir.
Ich hätte nach Ende meines regulären sechsmonatigen Aufenthalts im Juli die Möglichkeit gehabt, noch ein Jahr zu bleiben. Aber nach allem, was dann passiert ist, haben meine Partnerin und ich uns entschlossen zurückzukommen. Sie ist Soziologin und hatte zur gleichen Zeit wie ich einen Aufenthalt am MIT (Massachusetts Institute of Technology). Inhaltlich beschäftige ich mich mit Protesten und sie mit Diversität. Das sind Themen, die auf der Abschussliste der Trump-Regierung stehen. Nachdem auch noch mein Visum erst annulliert und dann durch Gerichte doch wieder bestätigt wurde, haben wir uns endgültig entschlossen im Sommer wieder nach Europa zurückzukehren.
Woher kommt Ihr Interesse an politischem Protest?
Ich habe in Köln Politikwissenschaften studiert. Nach dem Bachelor bin ich nach Frankfurt am Main gegangen und habe während des Master-Studiums dort ein Auslandssemester in Paris absolviert. Dort gab es zu dieser Zeit riesige Proteste gegen die Macron-Regierung. Ich war fasziniert, wie geordnet und ruhig Proteste in Deutschland im Vergleich dazu ablaufen. In Frankreich werden Bengalos gezündet, überall ist Rauch, Leute klettern auf Autos und die Polizei steht einfach daneben und schaut zu. Seither war ich in verschiedenen Ländern und habe immer mit Interesse die jeweiligen Protestkulturen beobachtet. Bei meiner eigenen Involvierung in Protesten zu dieser Zeit stellte ich mir außerdem die Frage: Bringt es überhaupt etwas, wenn Menschen auf die Straße gehen?
Für meine Promotion zum Einfluss von Protest auf politische Entscheidungsträger bin ich nach Köln zurückgekehrt, an das Cologne Center for Comparative Politics. Mittlerweile habe ich meinen Blick auf den Einfluss von Protest auf die öffentliche Meinung geweitet. Außerdem beschäftigt mich die Frage, wann Protest gewalttätig wird.
Welche Funktionen erfüllen Proteste?
Protest und freie Meinungsäußerung sind elementare Bedingungen für funktionierende Demokratien. Protest ist etwas Produktives, er macht Forderungen sichtbar, deckt Missstände auf und sorgt für politischen Wandel. Das kann eine Gesellschaft zum Besseren hin verändern, wenn Veränderung über die etablierten politischen Kanäle nicht oder nicht schnell genug gelingt. Ein aktuelles Beispiel ist die Bekämpfung des Klimawandels.
Gleichzeitig gibt es verschiedene Eskalationsstufen von Protest. Es gibt die klassischen Demos und konfrontativere Formen im Graubereich der Legalität. Dazu gehören etwa Straßenblockaden, die wir vielleicht als zivilen Ungehorsam einordnen können. Dann gibt es die Steigerung der politischen Gewalt gegen Gegenstände, wobei Autos angezündet oder Häuser beschmiert werden. Die extremste Form ist die politische Gewalt gegen Menschen. Diese Fortschreitung meint der Begriff der Radikalisierung in meiner Forschung. Während die ersten beiden Formen demokratiefördernd sind, können gewalttätige Protestformen Demokratien auch untergraben.
Leben wir in einer Zeit sich radikalisierender Proteste?
Heute herrscht ein gewisser Tenor vor, dass sich Proteste radikalisieren und die Gesellschaft polarisieren. Aber ich befasse mich mit verschiedenen Protestformen und Protestthemen über die Zeit. Die 1990er Jahre waren viel radikaler. Da wurden Häuser angezündet und Menschen angegriffen, es war ganz schrecklich. Dagegen ist die heutige Situation in Deutschland vergleichsweise moderat. Die langfristige Perspektive kann unsere Wahrnehmung der Gegenwart also präzisieren.
Mich interessiert: Wann bleibt Protest friedlich, wann kippt er in konfrontativere oder gewalttätige Formen? Wie reagieren Politik, Medien und Gesellschaft jeweils? Im Moment habe ich den Eindruck, dass vor allem in den USA eigentlich friedliche, moderate Proteste in manchen Medien und der Politik als problematisch und radikal eingestuft werden, obwohl sie es eigentlich nicht sind.
Wie haben Sie einerseits die Proteste an der Harvard-Universität und andererseits die staatlichen Reaktionen darauf erlebt?
Die amerikanischen Unis haben eine lange Protesttradition: von der Bürgerrechtsbewegung und Protesten gegen den Vietnamkrieg bis zu den Black Lives Matter- und Nahostprotesten heute. Die Trump-nahen politischen Akteure kriminalisieren den Protest an Universitäten pauschal unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung. Es gibt sicherlich Antisemitismus, auch an den Universitäten, aber die Bekämpfung von Antisemitismus wird aktuell instrumentalisiert, um Protest generell zu unterdrücken.
Ich habe aus wissenschaftlichem Interesse selbst an vielen Protesten teilgenommen. Trump hat irgendwann auf »Truth Social« gepostet, dass Ausländer, die an illegalen Campusprotesten teilnehmen, des Landes verwiesen werden. Hierbei ging es um die Israel-Palästina-Proteste. Es ist aber so, dass auf jedem Protest – egal, zu welchem Thema – irgendeine Person die Palästinaflagge dabei hat. Das ist nun mal ein Thema, das die Leute aktuell bewegt. Wird das dann gleich als Antisemitismus ausgelegt? Ich habe seither natürlich zweimal überlegt, ob ich weiterhin an Protesten teilnehme. Für mich und meine Forschung ist das essentiell, aber gleichzeitig lief ich Gefahr, des Landes verwiesen zu werden. In den USA gibt es ja überall Kameras, die für mehr Sicherheit sorgen sollen. Also gibt es im Zweifelsfall auch Videomaterial von mir. Auch meine Social Media-Accounts könnten nach Protestaktivitäten durchsucht werden.
Verändert das die Kultur an den amerikanischen Universitäten?
Es herrscht ein Klima der Einschüchterung, obwohl gerade Universitäten Orte der freien Meinungsäußerung und des Austauschs sein sollten. Wenn es um die Möglichkeit geht, in die USA einzureisen, überlegt man sich, was man postet. Ich habe mich selbst auch zensiert, weniger Artikel auf Social Media geteilt und seltener an Protesten teilgenommen. Ich fand erschreckend, wie diese Selbstzensur sogar bei mir und in meinem Umfeld funktioniert hat.
Die sogenannte No Kings-Bewegung hat sich gegen die politischen Entwicklungen in Trumps zweiter Amtszeit formiert und am 14. Juni bei einem landesweiten Aktionstag mehr als fünf Millionen Menschen auf die Straße gebracht. Wie schätzen Sie diesen Protest ein?
Schon vor »No Kings« gab es Anfang April etwa die »Hands-off«-Proteste. Solche großen, landesweiten Einzelevents senden ein starkes Signal und es entstehen Kontakte zwischen Leuten. Doch Proteste in den USA sind oft sehr informell und themenspezifisch. Sie schaffen es häufig nicht, dauerhaft politische Organisationen zu bilden. In den Jahren davor hatte auch die Black Lives Matter-Bewegung viele Menschen auf die Straße gebracht, aber jetzt hört man nicht mehr viel von ihnen. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Etablierung einer langfristigen politischen Organisation aus einer Protestbewegung heraus schwierig ist. Ich frage mich, ob die No Kings-Bewegung das schafft. Die Demokratische Partei, die historisch viele dieser Protestbewegungen aufgenommen hat, kann diese Energie gerade allem Anschein nach nicht gut kanalisieren.
Würden Sie sich selbst aktiv an einer Protestbewegung beteiligen?
Als Wissenschaftler sage ich: Wir müssen erst mal definieren, was eine Protestbewegung eigentlich ist. Was bedeutet es, sich einer solchen Bewegung anzuschließen? Ist man als Teilnehmer an einer Demo schon Teil der Bewegung? Ich würde sagen: Nein. Das ist politische Partizipation. Teil der Bewegung zu sein hieße, sich dauerhaft auch organisatorisch zu engagieren. Ich gehe oft zu Protesten, organisiere sie aber nicht. Manche Proteste unterstützte ich mit meinem Wissen, aber da trete ich eher in meiner Rolle als Wissenschaftler auf, nicht als Aktivist.
Zur Person
Nach seiner Promotion in Köln absolvierte Dr. Lennart Schürmann Forschungsaufenthalte in Deutschland, den Niederlanden, Spanien und den USA. Aktuell forscht er zum den Themen Protest und Radikalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und an der Freien Universität Berlin. Ab September wird er außerdem als Max Weber Fellow am European University Institute in Florenz tätig sein.
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